Handwerk & Zukunft: Wie können mehr junge Menschen oder Quereinsteiger:innen gewonnen werden?
Die Zukunft des Handwerks beschäftigt viele Entscheidungsträger:innen, auch Rolf Wiegand, Bundesfachgruppenleiter Energiewirtschaft bei Ver.di. (Foto: Rolf Wiegand)
Das deutsche Handwerk steht vor großen Herausforderungen: Babyboomer, die in Rente gehen, fehlender Nachwuchs, Fachkräftemangel, Bürokratie. Gleichzeitig braucht es in den kommenden Jahren deutlich mehr Handwerker:innen, um die Energiewende umzusetzen. Politik und Verbände machen sich Gedanken, was zu tun ist. Es muss an vielen Stellen angesetzt werden - auch bei den Handwerksbetrieben selbst.
Handwerk & Zukunft: Das Wichtigste kurz gefasst
- Das Handwerk blickt mit Sorgen in die Zukunft: Fehlende Planbarkeit, Bürokratie, Wirtschaftsflaute und Fachkräftemangel.
- 30 Gewerke im Handwerk werden als klimarelevant eingestuft.
- Es werden vor allem Dachdecker:innen, Elektrotechniker:innen und Anlagenmechaniker:innen gebraucht.
- Es fehlt der Nachwuchs - die Hauptgründe sind der demografische Wandel, die steigende Akademisierung sowie die verstärkte Nachfrage.
- Potenziale liegen bei Gymnasiast:innen, Menschen ohne Schulabschluss und Zuwander:innen.
- Auch die Handwerksbetriebe selbst müssen sich an den Arbeitsmarkt und die Bedürfnisse der neuen Generation anpassen.
Wie blickt das Handwerk in die Zukunft?
Jörg Dittrich, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH), hat im Januar 2024 klar gemacht, dass der Frust bei vielen Betrieben und Beschäftigten aufgrund von „hohen Belastungen, fehlender Planbarkeit und mangelnder politischer Verlässlichkeit“ spürbar zunehme. Viele seien in großer Sorge um den „Wirtschaftsstandort Deutschland“. Dittrich beklagte im Interview mit dem ZDH die „immer neuen Berichts- und Dokumentationspflichten“ und kam zum Schluss, dass bei der Bürokratie „längst jede Schmerzgrenze überschritten“ sei.
Die Probleme sind sogar noch tiefgehender. Die sogenannten Babyboomer, sprich die Geburtsjahrgänge 1955 bis etwa 1969, gehen in den kommenden zehn Jahren in Rente. Dazu gesellen sich der Fachkräftemangel, problematische Generationswechsel in vielen Betrieben sowie die großen Herausforderungen, welche die Energiewende mit sich bringt. Das deutsche Handwerk ist in Alarmstimmung. „Dem Handwerk mangelt es nicht an Arbeit und Aufträgen, sondern an qualifiziertem Personal und Nachwuchs“, brachte es die Bundesagentur für Arbeit 2023 in einer Presseaussendung auf den Punkt.
Die Zahlen dazu sind alarmierend: Insgesamt 236.818 offene Handwerk-Stellen hat die im Juni 2023 veröffentlichte KOFA-Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) für das Jahr 2022 gezählt. Seit Beginn der regelmäßigen Erhebung im Jahr 2010 habe es noch nie einen solch hohen Stand gegeben. Die größten Personalengpässe gab es im Bauhandwerk mit mehr als 21.000 unbesetzten Stellen, aber auch in eigentlich zukunftsträchtigen Sparten wie der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik (SHK), wo knapp 17.000 Stellen offen waren. Wie groß das Thema Demografie ist, macht die Situation in Berlin deutlich, wo laut dem Deutschen Handwerkskammertag in der Gebäudetechnik, zu der auch die SHK-Berufe gehören, 43,5 Prozent der Beschäftigten älter als 55 Jahre sind. Im Dezember 2023 sprach die Bundesagentur für Arbeit (BA) von einer „anhaltenden Flaute der deutschen Wirtschaft“, die am Arbeitsmarkt ihre Spuren hinterlasse. In „bestimmten Berufen“ zeigen sich demnach „deutliche Anspannungen und Engpässe“ – und dazu gehöre neben der Pflege, dem Bau oder der IT-Branche auch das Handwerk.
Welche Gewerke sind klimarelevant?
Mitentscheidend für die Energiewende ist das sogenannte Klimahandwerk. Im Mittelpunkt stehen dabei Dachdecker:innen, Elektrotechniker:innen oder Anlagenmechaniker:innen für Sanitär, Heizung und Klimatechnik, aber auch Rollladenbauer:innen, Zweiradmechatroniker:innen, Brunnenbauer:innen oder Schornsteinfeger:innen.
Laut dem ZDH werden um die 30 Gewerke im Handwerk als klimarelevant eingestuft. „Das Klimahandwerk ist die zentrale Stellschraube für eine gelingende Energiewende“, betonte Daniela Schmitt, Wirtschaftsministerin des Landes Rheinland-Pfalz, in einer Pressemitteilung, denn es sorge dafür, dass Beratung zur energetischen Sanierung oder dem energieeffizienten Neubau geleistet, Wärmepumpen installiert, Solarpanele geplant und montiert sowie Elektrotechnik in Wohn- und Geschäftsgebäuden modernisiert werden.
Um die 30 Handwerksgewerke werden als klimarelevant eingestuft, darunter auch das Dachhandwerk (Foto: Ines Janas, WE SUM GmbH)
Das Handwerk ist von solch besorgniserregenden Statistiken besonders betroffen, da es eigentlich deutlich mehr Handwerker:innen bräuchte, um die anstehenden Herausforderungen stemmen zu können. Es brauche „Handwerker:innen, Meister:innen und Techniker:innen an allen Ecken und Enden“, betonte Rolf Wiegand, Bundesfachgruppenleiter Energiewirtschaft bei Ver.di, im Interview, denn „wir müssen im wahrsten Sinne des Wortes umbauen, neu bauen“. Und zwar Versorgungstrassen, LNG-Terminals, das Verteilnetz vor Ort, Leitungen – zusammengefasst: „Infrastrukturen ertüchtigen.“ Laut Angaben des Zentralverbands des Deutschen Handwerks wird allein der Bedarf im Sanitär-Heizung-Klima-Handwerk wegen der Planungen zum Wärmepumpenausbau auf rund 60.000 zusätzliche Monteur:innen bis 2030 geschätzt.
Wie wird sich die Nachfrage nach Handwerker:innen in Zukunft weiter entwickeln?
Die Studie „Zukunft Handwerk“ von S&B Strategy, einer Strategie- und M&A-Beratung, kam im Oktober 2023 zum Ergebnis, dass die Nachfrage nach Handwerker:innen getrieben von der Energiekrise, den Klimazielen und politischen Vorgaben weiter steigen wird. Bis 2030 wird erwartet, dass die Zahl der offenen Stellen um rund 62 Prozent höher sein wird als noch 2022. Die Hauptgründe dafür seien der demografische Wandel, die steigende Akademisierung sowie die verstärkte Nachfrage. Ein zusätzliches Problem ist die steigende Anzahl ungelöster Unternehmensnachfolgen. Bis zum Jahr 2030 wird in der Studie ein Anstieg von 23 Prozent erwartet, was bedeutet, dass es dann rund 11.300 Betriebe mit ungeklärter Nachfolge geben könnte. Zum Vergleich: 2020 waren es noch 9.200.
„Es fällt immer schwerer, Betriebsnachfolger zu finden oder Meisterinnen und Meister, die sich selbstständig machen oder ein Unternehmen gründen wollen“, sagte ZDH-Präsident Jörg Dittrich der Deutschen Presse-Agentur. Als zentrales Problem wurde die „überbordende Bürokratie“ ausgemacht, „Hemmnisse, Gängelei und Stolpersteine“ würden potentielle Betriebsnachfolger:innen davon abschrecken, sagte Peter Adrian, Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK). „Noch nie haben unsere Beraterinnen und Berater von einem so geringen Interesse an der Gründung oder Übernahme eines Unternehmens berichtet.“ Laut den Verbänden werden allein im Handwerk mindestens 125.000 Familienbetriebe in den nächsten fünf Jahren eine Unternehmensnachfolger:in suchen - eine beachtliche Zahl bei rund einer Million Handwerksbetriebe in Deutschland. Dittrich beschäftigt es sehr, „dass viele Betriebe leise sterben“. Geschäftsführer:innen würden aufgrund der Probleme schon einige Jahre vor der Rente aufhören oder den Betrieb nicht mehr an Nachfolger:innen übergeben, sagte er im Interview mit t-online.
Wie kann die Nachfrage nach Handwerker:innen in Zukunft gedeckt werden?
Eines der Hauptprobleme bleibt aber der fehlende Nachwuchs. Wie viele Handwerks-Lehrlinge fehlen, verdeutlichte Dittrich im Jahr 2023 in der Rheinischen Post: „Ende April waren bei unseren Handwerkskammern noch knapp 40.000 offene Ausbildungsplätze gemeldet.“ Besonders groß sei der Bedarf bei den Klimaberufen, „also etwa bei Heizung-Sanitär-Klima, bei Elektroinstallateuren, generell am Bau, aber auch in den Lebensmittel- oder in den handwerklichen Gesundheitsberufen“, erklärte er. In Bayern etwa seien im Ausbildungsjahr 2021/22 26 Prozent aller angebotenen Ausbildungsplätze leer geblieben, nie sei die Nachwuchslücke größer gewesen, berichtete der Bayerische Rundfunk (BR).
Die große Frage rund um die Zukunft des deutschen Handwerks lautet also: Wie kann dieser personelle Mangel behoben werden? Dittrich fordert: „Wir müssen uns viel stärker darauf konzentrieren, die inländischen Fachkräfte-Potenziale zu heben.“ Er blickt dabei auch auf die vielen jungen Menschen, die keinen Schulabschluss machen. Und auf die Gymnasien, wo es immer noch so sei, „dass die Schülerinnen und Schüler vor allem eine Studienberatung erhalten und die Perspektiven beruflicher Bildung gar nicht vorkommen", kritisierte der ZDH-Präsident.
ZDH-Präsident Jörg Dittrich will die Zukunft des Handwerks auch über die Schulen sichern. (Foto: ZDH/Henning Schacht)
Dass genügend junge Menschen da wären, die für das Handwerk potenziell in Frage kämen, machen die Zahlen des Mikrozensus deutlich, wonach es im Mai 2023 rund 600.000 Menschen zwischen 18 und 24 Jahren gab, die zwar die Schule verlassen hätten, aber danach nicht in einer Arbeitsstelle angekommen oder eine Ausbildung beziehungsweise ein Studium begonnen hätten. „Wo sind die geblieben?“, fragte Dittrich, „da fallen zu viele junge Menschen durch das Raster.“
Geht es nach dem ZDH-Präsidenten, muss man sich auch Gedanken über das deutsche Schulsystem machen. „Wir brauchen eine Bildungswende“, unterstrich er, einen flächendeckenden Werkunterricht fände er „hoch sinnvoll“. In einem Gastbeitrag für die FAZ schrieb Dittrich im Oktober 2023, „der Elitismus in der deutschen Bildungspolitik“ nehme den jungen Menschen nicht nur die Chance auf „sinnhaftes Arbeiten im Klimahandwerk, sondern unseren Betrieben auch die dringend benötigten Fachkräfte“.
Wie kann die Zuwanderung dem Handwerk helfen?
Dittrich ist sich aber auch im Klaren, dass der Fokus auch auf andere Gruppen wie Ungelernte, Menschen ohne Berufsausbildung oder Langzeitarbeitslose zu richten ist und die „gezielte, gesteuerte und qualifizierte Zuwanderung“ als „weiterer wichtiger Baustein“ angesehen werden muss, erklärte er im Interview mit der Funke Mediengruppe. Auch andere Expert:innen teilen diese Meinung. „Um in den nächsten Jahren den Bedarf an Fachkräften zu decken, wird es unumgänglich sein, Qualifizierung von Ungelernten und die Rekrutierung von Personen aus dem Ausland in Betracht zu ziehen“, sagte auch Coralie Remy, Bereichsleiterin der Agentur für Arbeit Neuwied, im Rahmen des „Arbeitgeber-Infotag Handwerk“ im Jobcenter Neuwied im März 2023, bei dem Wege aus dem Fachkräftemangel im Handwerk aufgezeigt werden sollten.
Die Politik versucht über die Klimaschutz-Karte, jungen Menschen das Handwerk schmackhaft zu machen. Michael Kellner, Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), erklärte, man müsse nicht fünf Jahre lang studieren, um etwas zum Klimaschutz beitragen zu können. Das könne man auch im Handwerk „Ohne Handwerk kein Smart Home, keine erneuerbaren Energien, keine Wärmedämmung und keine modernen Mobilitätstechniken“, heißt es auf www.handwerk.de, einer Online-Initiative des Deutschen Handwerkskammertags. Deshalb sei das Handwerk die erste Adresse, „wenn es um Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Energiewende“ gehe.
Dittrich schließt sich diesem positiven Narrativ an. Der ZDH-Präsident betonte, dass man auch im Handwerk Karriere machen kann, da es sich finanziell lohne und das Handwerk im Gegensatz zu anderen Branchen weniger stark von der Digitalisierung bedroht sei. „Künstliche Intelligenz kann uns vielleicht das Ausfüllen nerviger Formulare abnehmen, aber das Kabel für das dafür nötige Internet wird weiterhin händisch verlegt“, sagte er im Januar 2024 im Interview mit t-online.
Bringt der demographische Wandel dem Handwerk in Zukunft auch Positives?
Vermeintlich negative Aspekte können ins Positive gedreht werden. Der demografische Wandel etwa öffnet dem Handwerk auch neue Türen. Da die Bevölkerung immer älter wird, wächst auch der Bedarf an modernen generationengerechten Badezimmern – und hier kommt das Sanitär-, Heizungs- und Klima-Handwerk (SHK) in Spiel, die diesen Bedarf bedienen können.
Dieses Potenzial ist groß: Laut dem Statistischem Bundesamt steigt die Zahl der Pflegebedürftigen von Jahr zu Jahr: 1999 waren es noch knapp zwei Millionen Menschen, im Dezember 2021 dagegen schon fast fünf Millionen. Gleichzeitig steigt auch der Anteil derer, die zu Hause gepflegt werden: 2021 wurden 84 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt, das sind knapp zehn Prozent mehr als 2017. Der Wunsch vieler Menschen, so lange wie möglich in der eigenen Wohnung zu bleiben, bringt also automatisch die Notwendigkeit mit sich, dass die Wohnungen altersgerecht gestaltet werden müssen.
Hoffnung macht zudem die Studienreihe „Wie tickt das deutsche Handwerk in Zeiten der Digitalisierung?“ des ECC Köln und dotSource bezüglich der „Berufstreue“ der Handwerker:innen. Demnach planen rund drei Viertel der Befragten, „langfristig“ im Handwerk zu arbeiten. Speziell die Über-30-Jährigen wollten ihre aktuelle Position bis zum Ruhestand beibehalten.
Zahlreiche Beteiligte sind sich aber auch darüber einig, dass auch die Handwerksbetriebe selbst gefragt sind, dem deutschen Handwerk eine gute Zukunft zu bescheren. „Die Betriebe sind schon selber gefordert“, betonte Rolf Wigand von Ver.di. Diese müssten sich auf die Situation am Arbeitsmarkt einstellen und sich bewusst machen, „dass nicht mehr alle Stellen selbstverständlich aus Bewerbungsverfahren besetzt werden können.“
Auch Julian Jehn, Recruiting-Experte für Bau-, Industrie- und Handwerksunternehmen, nimmt die Betriebe in die Pflicht. „Altmodische Stellenanzeigen zu schalten und auf begeisterte Bewerber zu warten, ist der falsche Weg. Modernes Recruiting braucht eine klare Strategie, Empathie und kreative Ideen“, sagte er im Baugewerbe-Magazin. Heute seien die Unternehmen in der Position, sich bewerben zu müssen, indem sie „ihre freien Stellen verkaufen wie ihre Produkte“. Auch Art und Kanal der Ansprache, Stichwort Social-Media-Recruiting, seien wichtig: Ein Imagevideo komme bei potenziellen Auszubildenden heute viel besser an als ein Stelleninserat mit Text und Firmenlogo.
Jede Generation habe ihre eigenen Werte, Bedürfnisse und Anforderungen an die Arbeit, heißt es auf dem Handwerk-Blog Mega-Handwerk. „Diese zu erkennen und damit offensiv zu werben, ist die Herausforderung für zukunftsfähige Handwerksbetriebe.“
Fazit
Die größte Herausforderung, vor der das deutsche Handwerk steht, besteht darin, die inländischen Fachkräfte-Potenziale besser zu heben. Speziell die etwa 600.000 Menschen zwischen 18 und 24 Jahren, die nach der Schule weder in einer Arbeitsstelle angekommen noch eine Ausbildung beziehungsweise ein Studium begonnen haben, sind ein Potenzial, das besser ausgeschöpft werden sollte. ZDH-Präsident Jörg Dittrich fordert auch eine „Bildungswende“, damit die Faszination und Möglichkeiten des Handwerks den Schüler:innen besser aufgezeigt werden.
Gefragt sind aber auch die Handwerksbetriebe selbst. Sie müssen sich an die heutigen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes anpassen und der neuen Generation bessere Arbeitsmodelle anbieten, da die potenziellen Handwerker:innen von morgen großen Wert darauf legen.