Architektur der Zukunft: “Photovoltaik wird so normal und attraktiv sein wie Mauerwerk”
Großer Bahnhof im Sommer 2022 anlässlich der Eröffnung des neuen MVZ in Marburg: Architekt Hagen Plaehn (2.v.l.) mit Vertretern der Stadtwerke, des BUND, der Stadt, des Landes Hessen und Christian Quast von der Sonneninitiative (2.v.r.). 161 schwarze, maßgefertigte Glas-Glas-Module von sunovation verkleiden die Eckfront des 70er-Jahre Baus, erzeugen 25.000 Kilowattstunden Strom im Jahr und senken den horrenden Stromverbrauch der MRT- und CT-Geräte des Diagnostikzentrums. (Foto: Sonneninitiative)
Damit die Energiewende gelingt, sollte jedes Haus im öffentlichen Raum eine energetisch aktive Gebäudehülle haben, findet Hagen Plaehn. Wie das geht, erläutert der renommierte Solararchitekt anhand der vorbildhaften Sanierung eines 70er-Jahre-Hauses in Marburg.
Interview mit dem renommierten Solararchitekten Hagen Plaehn
Steckbrief
Name Hagen Plaehn
Alter 57
Profession
Architekt Dipl.-Ing. (TU), Partner der Adäquat Planungs- und Sachverständigengesellschaft für Architektur und Gebäudetechnik
Wohnort Hannover
Credo
Architektur muss dem Klimawandel begegnen und mit ihren Gebäuden sowohl Energie einsparen wie regenerativ erzeugen
Beispiele
MVZ Marburg, Porsche Zentrum Hannover, Enercity Hannover
Herr Plaehn, mit dem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) in Marburg haben Sie bewiesen, dass man eine Gebäudehülle höchst attraktiv zur Photovoltaik-Gewinnung umgestalten kann. Wie kam es dazu?
Das MVZ, vorneweg die Radiologie, brauchte neue MRT- und CT-Geräte mit hohem Energieverbrauch, und während wir die beiden unteren Etagen planten, entstand die Vision, das MVZ in Zukunft klimaneutral zu betreiben. Das stieß sofort auf Zustimmung. Wir setzten zunächst PV-Module aufs Flachdach und nutzen auch die Abwärme der Röntgengeräte für die Niedertemperaturheizung, hatten dann aber noch die Option, auch die Gebäudehülle zur weiteren Stromgewinnung zu gewinnen – und so vielleicht sogar das ganze Gebäude zur Building Integrated Microgrid Platform (BIMP) zu machen.
Was ist eine BIMP?
Die Building Integrated Microgrid Platform (BIMP) ist ein intelligentes Gebäude-Energiemanagementsystem, das den Betrieb eines sog. lokalen Inselnetzes steuert. Es besteht z.B. aus einer PV-Anlage, einem Energiespeicher, einem Elektrofahrzeug, einem Mikro-Blockheizkraftwerk und einer Mess-Infrastruktur. Abhängig von der schwankenden Stromverfügbarkeit aus erneuerbaren Energien sorgt das Inselnetz durch intelligente Steuerungssoftware für Versorgungssicherheit und Resilienz. Die Software ist so programmiert, dass sie große Verbraucher bei geringer Stromverfügbarkeit abschalten kann oder ihnen ein Signal gibt, wenn sie ans Netz gehen dürfen. Wichtige Basisfunktionen dieser Insel wie Beleuchtung, Wasserversorgung und Telekommunikation haben Vorrang.
Und haben Sie die Idee realisiert?
Nein, bedauerlicherweise haben wir die anfängliche Konzeption verworfen, da der Energieverbrauch der Radiologiegeräte allein bereits die potenziellen Vorteile überstiegen hätte. In Bezug auf den Kosten-Nutzen-Effekt war keine wirtschaftliche Tragfähigkeit erkennbar, insbesondere im Hinblick auf den horrenden Stromverbrauch der Radiologie.
Architektur der Zukunft heißt, dass PV-Module als gestalterisches Potential eingesetzt werden
Immerhin haben Sie noch eine energetisch aktive Fassade realisiert. Warum passiert das so selten bei Sanierungen?
Die Auswahl an zugelassenen Systemen ist ziemlich begrenzt. Mehr Konkurrenz würde nicht nur die Dynamik in der Branche steigern, sondern die PV-Module auch deutlich günstiger machen. Allerdings steigt der Planungsaufwand für eine geschlossen-flächige Fassade – und um die geht es ja – je unregelmäßiger die Struktur eines Gebäudes ist. Dann müssen kostengünstige Standardmodule oft durch Sonderanfertigungen mit individuellen Maßen ergänzt werden, und auch das geht ins Geld...
Sind es allein die Kosten, die PV-Fassaden verhindern?
Nicht nur, bauwerkintegrierte Photovoltaik (BiPV) ist Neuland. Damit muss man sich eben auseinandersetzen. Auch Architekten sind Menschen, die sich zunächst gern an Altbewährtem orientieren. Und klar, es geht auch ums Geld. Eine aktive Gebäudehülle ist aufwendiger als eine passive. Zwar spart man den Mehraufwand später durch die Energieernte vielfach wieder ein, doch das spielt bei den Baukosten zunächst keine Rolle. Es bedarf eines entsprechenden Geschäftsmodells, um diesen energetischen Schatz zu heben. Im Fall des MVZ in Marburg bin ich dem Verein Sonneninitiative mit seinen Investoren und den Stadtwerken Marburg sehr dankbar, dass sie zusammen einen passenden Business-Case entwickelt haben.
Das 70er-Jahre-Haus nahe des Marburger Bahnhofs galt als Bausünde und ist nach der energetischen Fassadensanierung nicht mehr wiederzuerkennen. Die Solarplattform Sonneninitiative ist Bauträger der BiPV-Fassade, jeder ihrer privaten Investoren partizipiert am Stromertrag, dessen Erlös von den Marburger Stadtwerken garantiert wird. (Foto: Sonneninitiative)
Ist das auch der Grund, warum man in unseren Innenstädten so gut wie keine Photovoltaik sieht?
Vermutlich. Aber es ist interessant zu beobachten, wie sich die Wahrnehmung des Themas verändert hat. Als wir 2017 die Idee einer PV-Fassade für das MVZ in Marburg präsentierten, wurden wir zunächst belächelt, teils sogar mitleidig. Doch durch die zunehmende Energieverknappung änderte sich die Stimmung schnell. Plötzlich wurde unsere Idee nicht mehr hinterfragt, sondern als konsequenter Weg für die Zukunft innerstädtischer Fassaden betrachtet. Echtes Interesse an dieser Technologie hat sich deshalb erst in den letzten zwei Jahren entwickelt.
Bauwerkintegrierte Photovoltaik wird ein Bestandteil zukünftiger Architektur sein
Architekten hadern in der Regel mit nachträglich aufgesetzten Modulen, weil sie die Ansicht bzw. die Kubatur von Gebäuden (zer-)stören. Müssen Architekten jetzt umdenken, damit die Energiewende gelingt?
Nein, die Einsatzmöglichkeiten von BiPV sind doch so vielfältig und unterscheiden sich kaum von anderen Vorhangfassaden aus Naturstein, Metall oder Glas. Es dauert nur eine gewisse Zeit, bis die Erkenntnis reift, dass es sich bei BIPV nicht einfach um eine Aneinanderreihung von Modulen handelt. Als Architekt sollte man natürlich auch wissen, was alles auf dem Markt ist…
Im Übrigen zerstört eine aktivierte Vorhangfassade gerade nicht die Kubatur eines Gebäudes, sie unterstützt sie. BiPV verschmilzt Architektur mit Klimaschutz. Durch die Integration von Photovoltaik in die Gebäudehülle wird nicht nur Energie erzeugt, sondern auch die architektonische Integrität und Funktionalität des Gebäudes bewahrt.
Sie sprachen einmal davon, Photovoltaik mit städtebaulicher Ästhetik versöhnen zu wollen. Was muss dafür passieren?
Es ist auffallend, wie in Gesprächen über Photovoltaik ihr hässliches Erscheinungsbild dominiert. Ich teile die städtebaulichen Bedenken, da die herkömmliche Aneinanderreihung von Modulen die Gebäudeansicht wirklich verschlechtert. Entschuldigen kann das nur die Tatsache, dass in solchen Fällen Ästhetik ja auch nicht angestrebt war, sondern nur Stromgewinnung.
Es ist eine echte Herausforderung für uns Architekten, Dächer vollflächig und fugenlos mit PV zu belegen und auch Fassaden zu nutzen. Nur gelungene Beispiele können beweisen, dass sich eine aktivierte Gebäudehülle versöhnlich in einen bestehenden städtebaulichen Kontext einordnet. Photovoltaik darf nicht nur als technische bzw. klimatische Notwendigkeit betrachtet werden, sondern als gestalterisches Element.
Architekten werden in Zukunft kein Gebäude mehr ohne solare Energiegewinnung planen
Jede der schwarzen PV-Module von Sunovation ist auf Maß gefertigt, insgesamt gibt es 28 verschiedene Größen und Geometrien. In einem zweiten Bauabschnitt sollen auch noch Staffel- und Dachgeschoss mit Photovoltaik bestückt werden.
Ist bauwerkintegrierte Photovoltaik mittlerweile eine Pflichtdisziplin für Architekten?
Natürlich – und es ist schon faszinierend, wie sich die Themen in der Architektur und im Bauwesen im Laufe der Zeit verändern. Als ich vor 30 Jahren an der TU Braunschweig studierte, war Photovoltaik ein Randthema. Heute sind erneuerbare Energien in den Lehrplänen „Entwerfen“, „Baukonstruktion“ und „Baustoffkunde“ Pflicht. Die Dynamik in der Bauindustrie und die Notwendigkeit nachhaltiger Praktiken verlangen geradezu nach erneuerbaren Energien und der Gebäudeintegration von Photovoltaik. Heutigen Architekten ist das vollkommen klar.
Empfehlen Sie eigentlich auch privaten Bauherren eine energetisch aktive Fassade?
Das hängt von verschiedenen Faktoren ab: Wenn z.B. die Verschattung zu hoch ist oder die Kosten in keinem Verhältnis stehen, ist BiPV wenig sinnvoll. Als Planer sind wir ja auch Verwalter des Budgets, daher spielt Wirtschaftlichkeit immer eine Rolle. Eine energetisch aktive Dachfläche empfehlen wir dagegen in der Regel immer. Die Vorteile wie Energieerzeugung und Kostenersparnis sind dabei besonders überzeugend. Wir treffen unsere Entscheidungen aufgrund einer fundierten Analyse, um die besten Ergebnisse für unsere Auftraggeber zu erzielen.
Waren in Ihren solaren Planungen bisher Solardachziegel ein Thema?
Bei Solardachziegeln zeigt sich eine erfreuliche Verfeinerung, die ich aufmerksam verfolge. Die gestalterische Raffinesse und die Diversifikation der Produkte nehmen kontinuierlich zu. Leider erlauben manche Module aufgrund ihrer Größe keine randbündige Belegung. In dieser Hinsicht finde ich die Solardachziegel von Autarq besonders vielversprechend, sie können Dachflächen fast komplett nutzen.
In Zukunft können Solardachziegel die Architektur von Gebäuden immens verfeinern
Würden Sie ein Bauprojekt annehmen, bei dem komplett auf Photovoltaik verzichtet werden soll?
Die Haltung eines potentiellen Auftraggebers gegenüber einer Photovoltaik-Anlage, sei es an der Fassade oder auf dem Dach, ist anfangs nicht immer offensichtlich. Als beratender Planer ist es unser Job, eine Vielzahl von Möglichkeiten vorzustellen, natürlich immer auch Photovoltaik. Und im Gespräch können wir dann eventuelle Vorurteile oder Fehlinformationen sehr gut ausräumen. Wenn uns ein Projekt attraktiv erscheint, lassen wir uns erstmal darauf ein.
Im Falle des MVZ-Marburg waren mehrere Instanzen bzw. Investoren an der Realisierung des Vorhabens beteiligt, der Verein Sonneninitiative, der örtliche Energieversorger und die Stadt selbst. Lässt sich dieses Modell auf Privathäuser übertragen?
Das Finanzierungsmodell für das MVZ Marburg erfolgte zu einer Zeit, in der sowohl aus Überzeugung als auch aus Renditeerwartungen investiert wurde. Aufgrund gestiegener Zinsen befindet sich dieses System momentan auf weniger stabilen Füßen, Tagesgeld bringt im Moment vergleichbare Zinsen. Ich glaube, dass das Modell im gewerblichen Sektor weiterhin erfolgreich sein wird. Auf dem privaten Sektor sehe ich es derzeit skeptisch.
Letztlich entscheiden Bauherren, ob über die gesetzlichen Anforderungen hinaus in eine nachhaltigere Energiegewinnung investiert wird. Wie sehen Sie da Ihre Rolle?
Unser Schwerpunkt liegt immer darauf, die Vorzüge von Photovoltaik mit Argumenten zu untermauern. Wir müssen ja nicht nur den rechtlichen Rahmen erfüllen, sondern wollen auch innovative und ansprechende Lösungen präsentieren wie im Falle des MVZ Marburg. Wir begrüßen BiPV als Quelle der Inspiration und als willkommene Herausforderung. Unsere Philosophie basiert darauf, Etabliertes in Frage zu stellen oder Vertrautes zu hinterfragen. Diese Fragen zu stellen, sind integraler Bestandteil unserer Architektur.
Solararchitekt Hagen Plaehn (im Bild) aus Hannover hat den Eigentümer des MVZ Marburg, Prof. Siegfried Bien, von der solaraktiven PV-Fassade seines Radiologiezentrums überzeugt. Plaehns Architekturbüro „Adäquat“ ist spezialisiert auf regenerative Gebäudetechnik.
Welchen Beitrag leisten Sie persönlich zur Energiewende?
In sämtlichen Lebenslagen, sei es im privaten oder beruflichen Kontext, streben wir danach, Energie einzusparen. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass wir bewusst auf den Einsatz von Fahrzeugen verzichten und stattdessen auf umweltfreundlichere Alternativen wie das Gehen, Fahrradfahren oder den öffentlichen Nahverkehr setzen.
Welche Faktoren sind für Sie entscheidend, damit die Energiewende gelingt?
Jeder individuelle Beitrag, sei es bei der Mobilität, dem Stromverbrauch, der Heizung etc., trägt maßgeblich dazu bei, einen bedeutenden Faktor zu schaffen. Selbst aus vermeintlich geringen Einsparungen entsteht in der Gesamtheit ein deutlicher Umkehrtrend.
Was halten Sie für das größte Hindernis bei der Energiewende?
Die mangelnde Kommunikation untereinander, sei es auf politischer oder privater Ebene. Es ist essentiell, wieder das Verständnis und die Fähigkeit zu entwickeln, auf einem respektvollen Niveau miteinander zu diskutieren und gemeinsam Lösungen für ganzheitliche Probleme zu erarbeiten.
Welcher Schritt war bisher der wichtigste in der Energiewende, und wie können wir dort anknüpfen?
Der entscheidendste Einschnitt bestand in der Abkehr von der Energiegewinnung durch Atomkraft und dem damit verbundenen Druck zur Entwicklung regenerativer Energien und Ressourcen.
Was wünschen Sie sich von Politik und Gesetzgeber?
Verlässlichkeit ist für uns von entscheidender Bedeutung. Alles andere untergräbt die Effektivität unserer Arbeit.
Herr Plaehn, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Interviewreihe: Schöne, neue Energiewelt
- Energiezukunft: Intro und Übersicht aller Interviews
- Energiekonzept Kommune: Interview mit Max Thiele, Stadtplaner
- Energie Wirtschaft: Interview mit Sandra Rostek, Leiterin Politik im Bundesverband Erneuerbare Energie
- Erneuerbare Energien Jobs: Interview mit Rolf Wiegand, Bundesfachgruppenleiter Energiewirtschaft bei Ver.di
- Verbraucher Photovoltaik: Interview mit Britta Berger, Verbraucherin
- Architektur der Zukunft: Interview mit Hagen Plaehn, Solararchitekt
- Solarindustrie: Interview mit Carsten Körnig, Geschäftsführer des Bundesverbandes Solarwirtschaft e.V.
- Solarforschung: Interview mit Prof. Dr.-Ing. Stefan Krauter
- Photovoltaik Handwerker: Interview mit Genc Hoxha
- Schöne, neue Energiewelt: Zusammenfassung der Interviews und Fazit